„im allgemeinen hört heute niemand mehr zu“. ilse aichinger war schon immer wortkarg. in ihren texten, im gesprochenen wort. sie enthielt sich dem diarrhoeartigen literatensprech ihrer machistischen aufbaugeneration. und sprach nur an den richtigen stellen: „es muss gar nichts bleiben“, fiel es 1996 aus ihr heraus. dies gilt auch für de:bug. nach 32.224.205 zeichen ist nun schluss. was bleibt, ist ein ambivalenter nachruf „…für ein besseres morgen“. wo seid ihr hingekommen mit solch leergedroschenen phrasen? wo ist die de:bug, die rasiermesserscharfe kritik am blankozeitgeist der 00-jahre formulierte und doch stolzen hauptes die selbstgetackerten piercings ihrer letzten love parade vorzeigte? so verschollen wie die leserschaft war in den letzten monaten auch der mut, den spagat zwischen gestern und morgen genau im jetzt zu schreiben, wohlwissend, dass das geschriebene morgen das grau des gestern sein würde. ihr habt euch verloren zwischen avantgarde und reaktionismus, zwischen systemkritik und tech-ads, zwischen „reisst alles nieder“ und biederem konformisten-trash! nicht nur mir schienen sich die einst ambitionierstesten querdenker zuletzt in rhetorischer vollbart-beweihräucherung zu vergnügen und statt kapitalismuskritik á la mercedes bunz dem cool des neusten synthietablets zu frönen.
dennoch: den rave habt ihr nie verlernt und die bandbreite der besprechungen bleibt unübertroffen. kleingetippt, zart aber gigantisch inspirativ. ich werde euch in erinnerung behalten, als zerfledderte zeitung, mit mut, zeitweilig das andere zu denken, prätentiös bisweilen, aber verdammt gut. und mit mit dem humor, zu schreiben, wenn es nichts zu schreiben gibt [christian blumbergs rezension zu britney spears – greatest hits: „echt nur hits drauf. wollte hier erst etwas von ‚oneothrix point never’ besprechen, aber hier sind ja viel mehr stücke drauf. spitzen-cd. kann ich nur empfehlen. viele grüsse,” 04/2014] ja, danke de:bug, für den mut zum lo-fi.
es ist ein kreuz mit der dialektik von beständigkeit und wandel. ist sie ein pendel, das – ohne schwung einzubüßen – just kurz vor den determinismus und dann wieder zum tabula rasa hin- und herschwingt? oder eher ein strategisches schachspiel, bei dem weiss nur gegen schwarz gewinnen kann – vice versa – wenn die jeweils komplementäre farbe sich überhaupt aufs spielbrett traut? oder gehört sie in die kategorie der vorderräder, die immer in dieselbe richtung lenken und von einem dritten rad, dem lenkrad, gesteuert werden? egal, welche denkbilder bemüht werden, sie windet sich immer heraus aus der erklärbarkeit. und dann schreibt bruno latour den satz: „wir sind nie modern gewesen“; wie ein donnerschlag hallt dieser durch die gehörgänge der verfechter von postmoderne und poststrukturalismus. wie, wo, was, wenn wir nie modern gewesen sind, können wir schon erst recht nicht postmodern geworden sein.
mit übermut könnte man dies auf die derzeitige electronifizierung der hauptstädtischen musiklandschaft übertragen. sie dekategorisiert sich zu einer flüssigen konsistenz von soundpattern und beatbrei. rebusartige sinn- und unsinnfelder werden kreiert, mal mit symbolischer aufladung, mal als bewusster nihilo-trash. beständigkeit und wandel ereignen sich hier in ein und demselben moment, als endlosschleifige liquid music (bitte bloss keine unterbrechung, dies könnte für einen kurzzeitigen moment bewusstseinsirritierenden schock erzeugen) mit gleichzeitiger erprobung bisher nie dagewesener soundvariationen. von der reglermanie zur rebusparty? indirekter ausdruck von emotion in verflüssigtem aggregatszustand? klammer auf (
) klammer zu. elektronische beats als mosaiksteinchen für ein gesellschaftlich-auditives gemälde? eine liquide hinterbühne für die reibungslose unterstützung von kommunikationshülsen? programmierbare innovation als strukturelement einer poststrukturalistischen popmusik? fragen in endlosschleifen, ich komme hier nicht weiter; besser abschalten. com truise machts vor.
…zehn bitterböse musikalische p-a-u-k-e-n-schläge, die das jahr 2013 zwischen der bowie- und daft punk- euphorie leider verpasst hat:
die absperrzäune um jim morrisons grab auf dem père-lachaise mit stacheldraht zu verstärken, damit die omis zu seinem 70. geburtstag keinen punk zelebrieren können
ein grammy an ja, panik für ihre fussballstadionhymne „dmd kiu lidt“
die rehabilitation von julia hummer zur frontfrau von alt-j
ein transatlantisches popduett von ellie golding und helene fischer im zdf-fernsehgarten
eine solotour von thes uhlmann mit dem titel „keinen schlechten ruf in guten kreisen, einen guten ruf in schlechten kreisen“
den sommerhit „stolen dance“ im sommer zu entdecken
nils freverts „ich würde dir helfen, eine leiche zu verscharren, wenn’s nicht meine ist“ als partysong beim cdu-bundestagswahlsieg
die memoiren „skinny girl“ von birdy kurz vor der auszeichnung für ihr lebenswerk bei der johnny hallyday-show
eine abschiedsgala mit „perfect day“ von und für lou reed beim finale von the voice of germany
eine x-mas edition der single „still“ von jupiter jones
und auch 2014 dran denken: fremde sind freunde, die wir noch nicht kennen.
“das café noir ist für jede und jeden offen. es trägt einen vorhang vor dem einzigen fenster. vier treppenstufen führen zum eingang herab. das türschild ist längst abgefallen. dennoch kann man auf dem hellen holz lesen: „café noir – die undenkbar“. das licht im innern ist gedimmt. meist legt malte dieselbe platte auf. keiner interessiert sich dafür, was gespielt wird, weder hier drinnen, noch draußen in der welt. ins café noir kommen nicht die menschen, die vom leben genug haben, sondern die, die von den menschen genug haben. sie sind in-betweener, mal hier mal dort. zwischendrin und doch draußen. ungreifbar und unbegreiflich.
rouven sitzt am vordersten tresen. er ist ein ausgewachsener mann. er muss sich weit bücken, um zur violine zu fassen, die er seitlich an den barhocker gelehnt hat. seine barthaare sprießen, irgendwo dazwischen auch ein paar graue. dazwischen. rouven ist ein in-betweener. eine raumfalte. ein kratzen an der tür, von beiden seiten. die mittlere kegel, die nicht getroffen wird, die aber auch niemand wieder aufstellen muss. er ist unsichtbar. unbrauchbar. wenn er spricht, verhallen die worte auf halbem wege. wer zu ihm spricht, spürt, dass die worte an ihm abprallen wie regen auf zellophan. sie bleiben als tropfen an ihm kleben, doch nimmt er sie nicht zu sich auf. er schüttelt sie ab. jeden menschen schüttelt er ab.
immer dienstags breitet er seine schreibutensilien aus. ein füllfederhalter, ein briefbogen und ein altmodisches tintenfässchen. wenn er den stift zum schreiben ansetzt, beugt er seinen kopf samt brille so weit hinunter, dass malte ihn inzwischen „beuge“ nennt. er schreibe keine briefe, erklärt er bisweilen. er klage an. als malte ihn vorgestern fragte, über was er schreibe, errötete er. kurze zeit später ist er fortgegangen, ohne zu bezahlen.”
eric stegel ist kulturanthropologe und hobby-buchhalter. seine leidenschaften sind modellboote auf der spree und reiseberichte von malcolm lowry – kontakt: eric.stegel@web.de
aufgrund der grossen abstinenz von nachfragen und wünschen bezüglich grausigen, trashigen covers von überhörten, noch grausigeren klassikern, habe ich mich der treuen leser- und hörerschaft zuliebe in die niederungen der seichten shoegaze-twinkle-backgroundhumming-platten begeben und ein bezauberndes wie aktuelles tonbeispiel auf den digitalen plattenteller gelegt:
nein, “let it be” von meeks taugt nicht für einen spätsommerhit, es reicht noch nicht einmal für die repeattaste. für mich. für die band meeks hat es für ein ganzes sortiment von beatles-klassikern gereicht. provokativ? nein, ich verschone euch, ich hätte ebenso das cover von “norwegian wood” auflegen können, dessen schlammiges geräuschinto an den soundcheck betrunkener schulbands erinnert und murakami mit sicherheit ohrenbluten verursacht. obwohl, hier habt ihr es:
aber wozu diese schiefe, dissonante einleitung? weshalb der abschweif in psychedelische soundvarianten? weil es einfach gut tut, musik zu hören, die endlich einmal nicht den zuschreibungslogiken und passformen individueller vorlieben entspricht. denn gesellschaftliche einteilung verläuft nunmal in kollektivpattern, in marktanalysierten habitusformen, denen sich die menschen passiv fügen. selbst die masse der individuellen und alternativen werden zu einer konsumgruppe gefasst. verhaltenskodex “jutebeutel” korreliert wohl überwiegend mit dem kaufverhalten “stadtrennrad”. “deleuze” liegt sicher nicht in einem amazoneinkaufskorb mit “rechtswissenschaftlicher basisliteratur”. im zuge der nsa-affäre werden stimmen laut, die sich über die erfassung und weitergabe von personendaten empören. zurecht. aber die einzig sinnige antwort gegenüber kategorisierung und erfassung ist die radikale diskongruenz in form unerwarteter verhaltensformen. konformität ad adversum sozusagen. die infragestellung von lebensformen, handlungsroutinen, disziplinen und traditionen.
die kunst ist vieles nicht, nicht vieles, aber vordenkend immer. bukowski mag keinen hexameter verwendet haben, aber ein meister der freien verwendung von inhalt und form – mit nihilistischen einsprengseln – war er allemal:
kein vergleich mit hemingway
“im zug kam ihm angeblich mal
ein ganzer koffer manuskripte weg
und davon ist nie mehr was
aufgetaucht.
mit so viel agonie kann ich mich
nicht messen, aber neulich abends
schrieb ich auf diesem pc ein
gedicht von drei seiten
und durch schusseligkeit
mangelnde übung und rumspielen
mit befehlen im menü
brachte ich es irgendwie fertig
das gedicht für immer zu
löschen.
glaubt mir, das ist sogar
für einen neuling nicht leicht
aber ich habe es
trotzdem geschafft.
zwar glaube ich nicht, daß die
drei seiten unsterblich waren
aber es waren ein paar irre
knallige zeilen dabei, und die
sind jetzt für immer weg.
es ärgert mich mehr als ein
bißchen. ungefähr so
als hätte ich eine flasche
guten wein umgestoßen.
darüber zu schreiben
macht als gedicht nicht
viel her, aber ich hab mir
gedacht, es interessiert
euch vielleicht.
falls nicht, habt ihr
wenistens bis hierher
gelesen, und es könnte ja sein
daß noch was besseres
nachkommt.
hoffen wirs mal. für
euch und für mich.”
(“kein vergleich mit hemingway” – charles bukowski, aus ders.:
“auf dem stahlroß ins nirwana. gedichte 1988-1992.”)