Real Time Analytics

| “we don’t need the market to replace what we’ve lost.” (four water | denis jones) |

Posted: März 13th, 2012 | Author: | Filed under: image, word | No Comments »

wenn facebook durch time-line nun das einkleben unserer schnappschüsse übernimmt, mehr noch: die (un-)bewusste protokollierung aller aktivitäten  eines registrierten individuums, so ersparen wir uns die lästigen klebefinger. wir halten zwar nicht nach, was es sich lohnt, zu erhalten und zu memorieren, allerdings ist ja alles verfügbar – jederzeit. aber was bedeutet alles? so wie es der körper bei schweren krankheiten schafft, just im richtigen zeitpunkt das kurzzeitgedächtnis auszusetzen, so verläuft die erinnerung an das leben ähnlich: unser gedächtnis sondiert, sortiert und priorisiert. die frage, die sich nun also unweigerlich stellt: brauchen wir ein produkt des marktes, das für uns die wichtigste aufgabe des lebens übernimmt – sagen wir fairerweise „begleitet“ – und es sozusagen protokolliert? die antwort lautet unweigerlich: nein! „die erinnerung“ – so jean paul (in: die unsichtbare loge, 1973) – “ist das einzige paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann”. wir müssen uns dieser aufgabe aber selbst annehmen, zu verzerrt wird die retrospektive wahrnehmung durch die ansammlung historizitärer relikte. die ausklammerung jeglicher emotionaler dimension, die unser geist gleichzeitig memoriert, lässt genau das verkümmern, was man gemeinhin als erinnerung bezeichnet. die versuchte verhinderung faktischer erinnerung an eine bestimmte zeit ist zu unterstützen, die konservierung derjenigen emotionen, die das essenzielle bewahren: erinnerung.
einen begründungszusammenhang für digitale historizität und für die rasante entwicklung digitaler räume (wie time-line) liefert die tatsache, dass die erschaffung dieser und das leben in ihnen wenige kompromisse und anstrengungen erfordern. ein digitaler raum ist (vorerst) zugänglich, antiphysisch, entkräftet (im sinne einer entmaterialisierung, ergo einer ablösung von gravität) und apersonell. kommunikationspflege verläuft ohne die nervliche belastung nonverbaler störfeuer, ohne registerwechsel und mit einem merklichen quantum zusätzlich zur verfügung stehender reaktionszeit. emotionale distanz („es hört dich zwar niemand lachen, aber weinen sieht dich auch niemand“) schafft raum für emotionale öffnung, eine dialektik, in der der reiz und gleichzeitig die gefahr digitaler räume liegt. unverbindlichkeit erhält einzug, nicht durch kommunikation, sondern durch technische vervielfältigung statt natürlicher entstehung und verwesung. der organismus menschlichen lebens wird auf den kopf gestellt: wo früher alles ein ende hatte, hat es heute nie eines, für nichts. aufoktroyierter nihilismus der technischen sorte, vor dessen verzicht sich jeder gestellt sieht und zumeist mit negierung antwortet. materialismus und naturalismus werden exekutiert, besser: vakuumiert, digitalismus hingegen erscheint grenzenlos (chronologisch wie topologisch).
dies mag klingen wie ein abgesang auf materielle geschichte als erfahrung, wie sie walter benjamin als interpretation von baudelaires verszeile aus „le gout du néant“ verstanden hat: „‘le printemps adorable a perdu son odeur!‘ in dieser zeile sagt baudelaire ein äusserstes mit der äusseren diskretion; das macht sie unverwechselbar zu den seinigen. das insichzusammengesunkensein der erfahrung, an der er früher einmal teilgehabt hat, ist in dem worte perdu einbekannt. der geruch ist das unzusägliche refugium der mémoire involontaire. schwerlich assoziiert er sich einer gesichtsvorstellung; unter den sinneseindrücken wird er sich nur dem gleichen geruch gesellen. wenn dem wiedererkennen eines dufts vor jeder anderen erinnerung das vorrecht zu trösten eignet, so ist es vielleicht, weil diese das bewusstsein [sic!] des zeitverlaufs tief betäubt.“ (aus: benjamin, w.: illuminationen, 1977, 218)
in letzter konsequenz bedeutet digitalismus die zwanghafte auflösung emotionaler erinnerung, gepaart mit der negierung kulturgeschichtlicher zeichen der zeit. sie bewegen sich nunmehr vertikal im sinne von schichtungen und kopien, nicht mehr als chronologisch horizontale abfolge. die verdeutlichung an einem beispiel:
mit dem herausragenden kunstprojekt „fuck it up and start again – guitar smashed and mended seven times“ zeigte sophie hultén 2001 im stil einer videoperformance die siebenmalige mutwillige zerstörung einer gitarre in kargem raum. in mühsamer kleinstarbeit baut sie die gitarre immer wieder zusammen, wenngleich die zeichen der zerstörung immer feinschichtiger sichtbar werden. der kunstprozess mündete in ein abschliessendes objekt folgenden aussehens:

(quelle: http://www.sofiahulten.de/daten/guitar.html)

transferiert in einen digitalen raum und ausgerüstet mit lenovo-laptop, tastatur, maus und photoshop, führte ich das kunstprojekt abermals durch, an einem wahllos recherchierten digitalen musikinstrument. in anlehnung an hultén entstand ein kunstobjekt mit dem titel „fuck it up and [backspace] – guitar dissolved and restored 7 times in 21,4 sec.“ mit folgendem objekt als ergebnis:

(quelle: http://www.wochenspiegelonline.de/uploads/pics/gitarre_in_01.jpg)



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